![]() Das versteinerte Brot in der Kirche Hellinghausen |
Viele Jahre lang hatte die reiche Schwester den Jammer und die Armut ihrer unglücklichen Verwandten angesehen, ohne ihr zu helfen, so sehr die arme Schwester auch darum bat.
Eines Tages aber konnte die arme Mutter das Jammergeschrei ihrer hungrigen Kinder nicht mehr ertragen und sie entschloss sich, noch einmal zu ihrer Schwester zu gehen
und sie um ein Stückchen Brot anzuflehen. Die reiche Schwester aber antwortete: „Ich habe kein Brot!“
Und als die arme Schwester mit Tränen in den Augen noch inniger in sie drang, rief diese mit gellender Stimme: „Das Brot, das ich im Hause habe, mag zu Stein werden!“
Im Internet habe ich auch eine längere ↗ausgeschmücktere Fassung der Sage gefunden, die zusätzlich die Ehemänner der Schwestern und die familiären Situationen genauer beschreibt.
Und sogar ein Kirchenlied mit dem Inhalt der Sage habe ich gefunden: „Gott verläßt die Seinen nicht“, veröffentlicht 1842. Im Folgenden sind beiden Seiten aus dem Gesangsbuch abgebildet und können durch Anklicken vergrößert werden.
Überraschenderweise wurde im Lied der Ortsname Hellinghausen durch „zu Hirschberg in der Stadt“ ersetzt. Da dieses Kirchenlied im Gesangbuch „Schlesische Volkslieder“ erschien, wird wohl die Stadt Hirschberg im Riesengebirge (Schlesien) gemeint sein. Aber unter dem abgedruckten Kirchenlied wird über die Herkunft aufgeklärt: „Nach einer Liesborner Sage ereignete sich diese Geschichte zu Hellinghausen.“Die Gebrüder Grimm haben 1818 eine Sammlung veröffentlicht, in der auf ein „Handbuch für Bürger und Bauern“ von 1744 verwiesen wird, worin es schon heißt:
„Man hat an vielen Orten, namentlich in Westfalen, die Sagen, daß zur Zeit großer Teurung eine hartherzige Schwester ihre arme Schwester, die für sich und ihre Kindlein um Brot gebeten,
mit den Worten abgewiesen: »Und wenn ich Brot hätte, wollte ich, daß es zu Stein würde!« worauf sich ihr Brotvorrat alsbald in Stein verwandelt.“
Also war schon 1744 klar, dass die Sage nicht nur in Hellinghausen, sondern „an vielen Orten, namentlich in Westfalen“ in Umlauf ist. Falls die Sage ihren Ursprung in Hellinghausen gehabt hat (was wir hier vor Ort natürlich gerne glauben möchten), wäre es denkbar, dass man anderenorts einfach den Ortsnamen ausgelassen hat oder durch den eigenen Namen ersetzt hat. Umgekehrt wäre natürlich ebenso denkbar, dass man in Hellinghausen eine viel ältere Volkssage mit dem eigenen Ortsnamen versehen hat.
Um den Ort des Geschehens zu beweisen, bietet es sich an, ein Beweisstück in Form eines versteinerten Brots zu besitzen. Aber um welche Art von Artefakt handelt es sich bei dem Brot in der Hellinghäuser Kirche eigentlich? Ist es ein Stein, der zufällig einem Brot ähnelt - und bei dem man vielleicht bildhauerisch und mit Farbe und Mehlstreu ein bisschen nachgeholfen hat?
Auch andere Orte besitzen steinerne Brote und erzählen eine ähnliche Geschichte. Steinbrote soll es auch in den folgenden Kirchen geben: Landshut in Bayern, Danzig in Pommern/Polen, Leiden in Holland und Statzendorf in Österreich.
Ich finde es interessant, dass die steinernen Brote in Kirchen aufbewahrt werden, denn die Volkssagen selbst erwähnen Gott nicht und nennen keinen religiösen Bezug. Ich halte es für denkbar, dass volkstümliche Erzählungen nach der Christianisierung von der Kirche adaptiert wurden, z.B. in der Form des o.g. Kirchenlieds, worin dann Gott genannt wird. Hingegen werden in Volkssagen und Legenden zwar Moral und Wunder beschrieben, jedoch ohne dafür eine auf Religion oder Gott basierende Erklärung zu nennen.
Neben den Versteinerungs-Erzählungen gibt zudem eine Variante, in der beim Anschneiden des Brotes Blut aus dem Brot fließt. Eine solche Erzählung stammt aus Dortmund, wo ein Bäcker im Jahre 1579 während einer Hungersnot Wucherpreise verlangt: „Als er aber mitten in diesem Geschäft war, ist ihm sein Brot im ganzen Hause eines Tages zu Stein geworden und, wie er einen Laib ergriffen und mit dem Messer aufschneiden wollte, Blut daraus geflossen. Darüber hat er sich alsbald in seiner Kammer erhängt.“
Und aus dem Paderborner Land soll die Legende „Gottes Speise“ stammen:
„Eine arme Witwe mit fünf Kindern bittet ihre reiche Schwester um Brot, aber die ist hartherzig und schickt sie weg. Als der Mann der Reichen heimkommt und das Brot anschneidet, fließt Blut heraus.“
Die blutigen Varianten könnten historisch mit Hostienwundern verwandt sein.
Es gibt als immer noch eine Geschichte hinter der Geschichte.