Zurück  •  Startseite  •  Impressum & Datenschutz
1907: Lange Straße, Lippstadt


 
Die beiden Bilder stammen von Ansichts­karten, die in den an­ge­ge­benen Jahren post­alisch ge­laufen sind. Die Bilder sind alt­kolo­riert, d.h. die s/w-Fotos wurden nicht am Com­puter, son­dern da­mals mit Pinsel und Farbe von Hand kolo­riert.

Das Bild rechts zeigt die „Alte Post“, die da­mals die neue Post war (ge­baut 1905). Das Post­amt war vor­her an der Bahn­hof­straße, da­vor im Hotel Köppel­mann und da­vor an der Post­straße, die des­halb noch heute diesen Namen trägt.

Viele Häuser an der Langen Straße waren da­mals im Erd­ge­schoss noch be­wohnt. Das erste Schau­fenster in Lipp­stadt hatte Lott 1911 ein­ge­baut.

Bürgersteige und Straßenverkehr

Ich schätze, dass es 1912 erst ca. 5 Autos in Lipp­stadt gab - damals noch eine Spiele­rei für Reiche. Die zu­läs­sige Höchst­ge­schwin­dig­keit be­trug inner­orts 15 km/h für Pkw und 12 km/h für Lkw. In einer Zeit, wo quasi jede Privat­person nur Fuß­gänger war, war die ganze Stadt ähn­lich einer Fuß­gänger­zone.

Aber stimmt mein letzter Satz über­haupt? Schließ­lich zeigen die Fotos ein­deutig Bürger­steige. Wenn ich die ganze Stadt mit einer Fuß­gänger­zone ver­gleiche, wo­zu wären Bürger­steige dann über­haupt nö­tig ge­wesen?

Damals hatten die Leute noch eine ganz andere Ein­stel­lung be­züg­lich der Straßen­nutzung. Im 19. Jahr­hundert herr­sch­te für Fuß­gänger Be­wegungs­frei­heit auf der Straße. Es gab keine Straßen­verkehrs­ordnung. Wenn sich ein Pferde­wagen näher­te, ging man ein Stück zur Seite.

Nicht ein­mal das Wort „Bürger­steig“ gab es. Im 18. und 19. Jahr­hundert hatten zu­erst London und Paris mit dem Bau von Geh­wegen be­gon­nen (nach­dem es sie zu­letzt in der rö­mischen Antike ge­ge­ben hatte). Deut­sche Groß­städte wie Köln und Berlin haben sich wahr­schein­lich in Paris das „Trottoir“ ab­ge­schaut. Das fran­zösische Wort Trottoir ist ab­ge­leitet vom Verb „trotter“ für „herum­laufen“. Die deut­schen Wörter „trotten“ und „traben“ stam­men auch daher.

Am 23.05.1888 machte die Stadt Lipp­stadt im Patriot be­kannt, dass 15 Stra­ßen der Kern­stadt mit neuen Trot­toirs ver­sehen werden. Welche dieser Stra­ßen schon vor­her Trot­toirs hat­ten, geht nicht da­raus her­vor. Möglicher­weise hatte zu­vor die Stadt den Bau von Geh­wegen gar nicht mit eigenen Mitteln aus­ge­führt, denn es heißt: „Die­jenigen An­wohner, welche einen An­spruch an das jetzige Trot­toir-Bedeckungs-Mate­rial zu haben glau­ben, werden auf­ge­fordert, die­sen An­spruch bin­nen 14 Tagen bei uns schrift­lich gel­tend zu machen“.

Der Grund für die Ein­führung von Trot­toirs war nicht, eine freie Bahn für Pferde­wagen zu schaf­fen, sondern diente dem Kom­fort der Bürger zu Fuß. Die Straßen waren von Pferde­exkre­menten ver­dreckt. Dies kann man auch auf den obigen Fotos er­kennen. Denken Sie an die boden­langen Röcke der Damen sowie an bar­fuß herum­lau­fende Kinder. Bürger­steige konnte man leich­ter sauber­halten. Zudem wurden die Trot­toirs mit flachen Geh­weg­platten be­deckt und be­standen nicht aus buckeli­gem Kopf­stein­pflaster. Und wenn man auf einem Bürger­steig steht und in einen Plausch ver­tieft ist, braucht man nicht auf Pferde­wagen zu achten. Für die Städte waren die Trot­toirs ein Status­symbol - ein Hauch von Paris. Mit Trot­toirs konn­ten sich die Städte als mo­derne und fort­schritt­liche Orte präsen­tieren. Bürger­steige signa­li­sier­ten den Bürgern und Be­suchern, dass die Stadt wohl­habend genug ist, sich um ihre Ein­wohner und de­ren Bedürf­nisse zu kümmern.

Als die ersten Automobile auf­kamen, begann ein Streit, der heute wieder ganz aktu­ell ist: Wem ge­hören die Straßen? All die Leute zu Fuß, die seit jeher auf der Straße gingen, sich dort trafen und unter­hiel­ten, waren nicht willens sich von Autos an den Straßen­rand ver­drängen zu lassen. Ich habe im Inter­net ein Gerichts­urteil von 1922 aus der Schweiz ge­funden, das klar­stellte, dass Fuß­gänger auf der Straße die glei­chen Rechte haben wie Autos, also dass Fuß­gänger gleicher­maßen be­rechtigt sind sich auf der Straße auf­zu­halten.

Den Autofahrern, die damals noch die Minder­heit dar­stell­ten, passte das nicht. Sie fanden sich zu Auto­mobil­vereinen zu­sammen. Als eine Auto­ver­sicherung zur Pflicht werden sollte, wetterten sie da­gegen, denn an­geb­lich seien doch die Fuß­gänger die Aus­löser von Ver­kehrs­un­fällen. Eine Haft­pflicht­ver­sicherung könne man sich sparen, denn bei einem Un­fall solle immer der Fuß­gänger die recht­liche Schuld be­kommen.

Erst 1934 trat die Straßen­verkehrs­ordnung in Kraft, die Fuß­gängern vor­schrieb, immer den Bürger­steig be­nutzen zu müssen, wenn ein Bürger­steig vor­handen ist. Damit be­gann die Zeit, in der sich der städti­sche Raum dem Auto­verkehr unter­ordnen musste - und man später mit Be­geiste­rung den auto­ge­rechten Aus­bau von Straßen förderte.

Nochmal zur Langen Straße: Als Haupt­verkehrs­straße wurde der Auto­verkehr zu­nehmend proble­ma­tisch, ins­be­sondere vor dem Bau der Um­gehungs­straße B55 (Eröffnung 1959), als sich noch aller Ver­kehr aus Erwitte Richtung Wieden­brück über den Bahn­über­gang am Süder­tor und durch die Lange Straße quälen musste. Aber zu jeder Ent­wick­lung gibt es eine Gegen­be­wegung, die für die Lange Straße dazu führte, dass sie nach jahre­langer Dis­kus­sion 1974 zur Fuß­gänger­zone um­ge­widmet und um­ge­staltet wurde. Auch dies hat man sich aus Groß­städten ab­ge­schaut.

Der Innenstadt­verkehr in Rich­tung Norden musste nun über die Woldemei ge­leitet werden. Die Wolde­mei (früher Wilhelm­straße) war je­doch bis in die 1970er Jahre ver­winkelt und des­halb nicht gut als neue Haupt­straße ge­eignet. Zahl­reiche Häuser an der Wolde­mei und Brüder­straße wurden ab­ge­rissen und die Straße be­gradigt. In seinem Büchlein zeigt der Künstler Horst Rottjakob-Stöwer auf vielen Fotos die Häuser vor dem Abriss.

Text: Jörg Rosenthal.
Bitte Kritik, Vorschläge u.ä. per E-Mail einsenden.
Zurück  •  nach oben  •  Startseite