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Foto-Postkarte Kinderheim




Ehemalige Kinderheime in und um Lippstadt
sowie das Thema Kinderverschickung

Auflistung hiesiger Heime
Josefskinderheim
Hedwigsheim
Entwicklung seit Mittelalter
Kinderverschickung


Kinderheime und Kurheime

In und um Lippstadt gab es im Laufe des letz­ten Jahr­hun­derts mehrere Kinder­heime. Die ursprüng­lichen Waisen­häuser für Voll­waisen und Findel­kinder ent­wickel­ten sich zu Kinder­heimen auch für Kinder aus armen „abwei­chen­den“ Fami­lien. Die Be­zeich­nung Kinder­heim wird heut­zutage nur noch für frühere Heime bis in die 1970er/­80er Jahre ver­wen­det, die damals von Ordens­schwes­tern ge­führt wur­den. Hier­zulande war oft­mals die katho­li­sche Caritas der Träger der Heime, im Bereich Lipp­stadt der Caritas­verband für das Erz­bistum Pader­born.

Unabhängig von den Kinderheimen wurden außer­halb der Städte auch Erholungs­heime für Kinder­kuren einge­rich­tet (Kinder­verschickung ins Kinder­kur­heim), die für schwäch­liche oder kränk­liche Kinder aus regu­lä­ren Fami­lien ge­dacht waren.

Wer zur folgenden Liste Ergän­zun­gen oder An­mer­kun­gen hat, bitte gerne per E-Mail bei mir melden.


  • St. Josef - Kinderheim Lippstadt
    (Josefskinderheim) am Kath. Kranken­haus, Weihen­straße 15, Grund­stein­legung 1888, auf­ge­löst 1971, Gebäude nach 1985 ab­ge­rissen (jetzt Park­platz).

  • St. Hedwig - Kinderheim Lippstadt
    (Hedwigsheim) LP-Süd Schwer­punkt, Bau und Einwei­hung 1959, ab 1987 deut­licher Rück­gang der Heim­belegung, 1999 Abzug der Hedwig­schwestern.

    • Schloss Overhagen von 1948 bis 1962 ange­mietet für Kinder­heim der Hedwig­schwestern, 1959(?) Umzug ins neu­gebaute Hedwigs­heim, s.o.

    • Schloss Körtlinghausen bei Rüthen-Kallenhardt von 1946 bis 1954 ange­mie­tet für Kinder­heim der Hedwig­schwestern, 1949 Umzug nach Schloss Over­hagen, s.o.

  • "Kloster" Hörste, Elisabeth-Haus
    Im ehemaligen Landgut: Säuglings­station, Waisen­haus und Alten­heim, 1864 bis 1971, Träger: Mutter­haus Salz­kotten (Caritas), Gebäude heute: ↗Restaurant Land­haus Günther.

  • Erziehungsheim Benninghausen
    LWL Anstalt, Landes­erziehungs­heim, 1949 bis 1975

  • Kreiskinderheim Bad Waldliesborn
    der Kreise Beckum und Wieden­brück, Kinder­heim ab 1922, Kinder­kuren 1937-1939 und 1946-1961, seit 1962 „Haus des Gastes“.

  • Provinzial-Kinderkurheim Bad Waldliesborn
    Träger: LWL Münster, 1946 bis 1970

  • Kinderkurheim Haus Carola, Bad Waldliesborn
    Träger: Caritas, 1925 bis 1941 vier­wöchige Kinder­kuren für je­weils bis 70 Kinder, anschlie­ßend Mütter­kurheim bis 1995.

  • Elisabethheim Westernkotten
    Kleinkinderbewahranstalt, Erholungs­heim

  • Ev. Kinderheim Lipperbruch
    Ringstraße, 1968 gebaut, später zu Alten­heim umge­baut.

  • Ev. Kinderheim an der Wiedenbrücker Str.
    1948 genannt als "Ev. Waisen­heim Haus Bormann", aufge­löst Mitte der 1970er(?), Umzug ins Ev. Kinder­heim Lipper­bruch

  • Kinderheim auf Amrum
    Kinderheim Dr. Ide auf der Nordsee-Insel Amrum von 1947 bis 1973, Vertrag zur Kinder­verschickung mit dem Kreis Lipp­stadt spätes­tens ab 1954, ebenso Kreis Wieden­brück und Kreis Soest. Träger: Soest und Güters­loh. Anschlie­ßend Gebäude-Verkauf an den Verein Lebenshilfe Lipp­stadt für die Betreu­ung von geistig Behin­der­ten, bis 1986, dann Verkauf an die Gemeinde­verwal­tung Nebel.


Josefskinderheim

Über 80 Jahre lang stand das Lipp­städ­ter Kinder­heim St. Josef, 1888 bis 1971, neben dem Katho­li­schen Kranken­haus (Drei­faltig­keits­hospital), wo heute nur noch ein Park­platz ist.

Das Josefs­kinder­heim war zuletzt für 90 Kin­der aus­gelegt, mit Näh­schule, und wurde von Vinzen­tine­rinnen ge­führt. In all den Jahr­zehn­ten seines Be­stehens wurde das Kinder­heim kaum in der Tages­zeitung er­wähnt.

Erst 2009 schrieb ein ehemali­ges Heim­kind, die 1947 als zwei­jähri­ges Mäd­chen zu­sam­men mit ihren Ge­schwis­tern von Amts wegen in das Josefs­kinder­heim ein­ge­wie­sen wurde, über ihre sehr schlim­men Er­leb­nisse dort. Sie blieb bis zu ihrem 14. Lebens­jahr im Josefs­kinder­heim in Lipp­stadt, wurde dann nach Dort­mund ver­legt - bis zu ihrer Ent­las­sung im 20. Lebens­jahr. Ihr schockie­ren­der Bericht wurde auf der Web­seite des Vereins ehemali­ger Heim­kinder e.V. veröf­fent­licht: Bericht.

Das Josefskinderheim wurde 1971 aus Personal­mangel auf­gelöst. Der Patriot titelte am 07.12.1971: „Schwestern ver­lassen Josefs-Kinder­heim nach über 100 Jah­ren“. Im Artikel: „Das Mutter­haus der Vinzenti­ne­rinnen in Pader­born sah sich ge­zwun­gen, seine Schwes­tern in andere Häuser zu holen, da kein Nach­wuchs da ist.“ Der Text lobte die Schwes­tern: „Jahr­zehnte­lang wirk­ten sie zum Segen der Kinder ... und ver­tra­ten in liebe­voller und selbst­loser Weise die Mutter“.

Nebenan im Katholischen Kranken­haus wurden 1986 auch die letz­ten Ordens­schwes­tern aus dem Kranken­haus abge­zogen. Der Patriot vom 01.03.1986 titelt: „Schwestern ver­lassen Lipp­stadt nach 130 Jah­ren“. Mitte der 1970er Jahre waren knapp 30 Vinzen­tine­rinnen im Kranken­haus im Ein­satz, 1986 waren es nur noch 15, viele von ihnen über 70 Jah­re alt.


Hedwigsheim

Das St. Hedwig - Kinderheim wurde 1959 als neues Gebäude im Lipp­städ­ter Süden er­rich­tet, für 140 Heim­kinder. Die Ordens­schwes­tern und die Heim­kinder gab es je­doch schon vorher: sie waren zuvor für ein paar Jahre im Schloss Over­hagen (dort 120 Kinder) und davor im Schloss Körtling­hausen unter­gebracht.

Die ↗Hedwigschwestern hatten ursprüng­lich ab 1859 ein großes Kinder­heim für 400 „Insassen“ in Breslau be­trie­ben, in der preußi­schen Provinz Nieder­schlesien. Die Odys­see der Hedwig­schwes­tern be­gann 1947, als Breslau wieder pol­nisch wurde und sie von dort ver­trie­ben wurden.

Über die Zeit auf Schloss Körtling­hausen schreibt sogar die eigen­werb­liche ↗Jubiläums­schrift der Caritas: „Der Erzie­hungs­stil sei hart ge­wesen ... Schläge waren an der Tages­ordnung.“


 Elisabeth Villmer 
Bericht aus der Zeit als Lehrling

Die Kinderheime in dieser Zeit waren wohl alle sehr ähn­lich. Ich war im Hedwigs­heim in Lipp­stadt von 1967 - 1969 als haus­wirt­schaft­licher Lehr­ling mit 7 ande­ren jungen Mäd­chen tätig. Wir waren gerade alle 14 Jah­re alt und somit kaum älter als die ältes­ten Heim­kinder dort. Ich wollte eigent­lich, so wie meine beiden Tanten, auch Nonne werden.

Wir haben nicht nur in der Küche ge­arbei­tet, sondern waren auch haupt­säch­lich in den verschie­denen Kinder­gruppen. Dort habe ich so viel er­lebt, dass ich heute oft noch Alp­träume habe und schweiß­nass auf­wache, und das ob­wohl ich keines der armen Kinder dort war.

Natürlich weiß ich, dass in den 1950ern und 60ern auch in den Fami­lien strenger er­zogen wurde als heute und damals ganz andere Krite­rien herrsch­ten. Zucht und Ordnung - vor allem Unter­ordnung waren die Erzie­hungs­ziele. Doch was mich so ge­schockt hat, war die Tat­sache, dass es einzelne Ordens­schwes­tern waren, die die Kinder quälten. Es waren nicht alle Nonnen schlecht, aber leider hatten einige wenige wirk­lich „Haare auf den Zähnen“.

Von zwei Begebenheiten möchte ich hier be­richten: Bettnässer waren natür­lich nicht gern gesehen und um ihnen das ab­zuge­wöhnen, muss­ten sie dann morgens die "Bücke­bur­ger Tracht" an­ziehen und sich im langen Flur damit auf­stellen. Die "Bücke­bur­ger Tracht" war so: das betref­fende Kind wurde in die nasse Bett­wäsche einge­wickelt und bekam den nassen Kissen­bezug auf den Kopf. Dann musste es im Flur stehen und alle anderen vorbei­kommen­den Kinder durf­ten ihren Spott mit dem armen Kind trei­ben und es auch an­spucken.

Eine weitere Strafe für Kinder, die Abend nicht still in ihren Betten lagen war, dass sie mit aus­gebrei­teten Armen im Flur stehen muss­ten - und wehe, sie ließen die Arme vor Er­schöp­fung mal sinken, dann be­kamen sie Schlim­meres zu spüren.

Und es gab sehr viele Denunzianten. Das habe selbst ich mal schmerz­lich zu spüren be­kommen. Die "Mutter Oberin" rief meine Eltern und meine beiden Tanten, die auch Nonnen waren, zu sich, um ihnen über meine Schand­tat zu be­rich­ten und mich aus dem Lehr­vertrag zu ent­lassen. Ich wäre ein fauler Apfel, der die ande­ren an­stecken würde, meinte sie, und ein fau­ler Apfel müsse recht­zeitig ent­fernt werden.

Meine "Schandtat" war: ich hatte mir am Kiosk ein Witze­heft „3x kurz gelacht“ ge­kauft. In dem Witze­heft waren Komik­figuren, die nicht ordent­lich ange­zogen waren. Also keine Nackten, nicht mal oben ohne, aber halt sehr frei­zügig ge­kleidete Frauen. Meine Eltern und Tanten fanden, dass ein Raus­wurf eine über­trie­bene Reak­tion auf meine Tat war und konn­ten, nach­dem ich Abbitte ge­leis­tet hatte, die Nonne davon über­zeugen, mich meine Lehre noch zu Ende machen zu lassen.

Ein Positives hatte das Ganze dann doch noch: Der Wunsch auch Nonne zu wer­den, war ver­schwun­den. Und das war die beste Ent­schei­dung meines Lebens, denn ich habe meinen lieben Mann kennen­gelernt und wir sind nun schon 53 Jah­re ver­hei­ratet.


 Elisabeth Villmer 
Auch etliche sehr liebe und gute Schwestern

Ich war nach meiner Schul­entlas­sung 1967 direkt zur Aus­bil­dung ins Kinder­heim St. Hedwig ge­kom­men. Die Lehr­zeit dauerte zwei Jah­re und war in Juli 1969 be­endet. Meine Eltern hat­ten mich ein­fach da ange­meldet, weil ich noch nicht so recht wusste, was ich mir beruf­lich vor­stel­len konnte. Sie mein­ten, Haus­wirt­schaft wirst du später ein­mal gut brauchen kön­nen. Wahrschein­lich, weil mich Haus­wirt­schaft nie interes­siert hat und auch meine Schul­note in Haus­wirt­schaft nicht gut war. Ich war sehr freiheits­liebend und viel in der Natur unter­wegs.

Die Ausbildungszeit im Hedwigs­heim war wirk­lich eine sehr trauma­ti­sche Zeit. Zum einen, weil ich immer sehr viel Heimweh hat­te und nur alle 4 Wochen, das 2. freie Wochen­ende, nach Hause durfte, zum ande­ren weil ich dort fast völlig von der Außen­welt ab­ge­schot­tet war und weder Fern­sehen, Radio noch Tages­zeitung zur Ver­fü­gung hatte.

In meiner Familie waren zwei Nonnen im Orden der Franziskus­schwestern der Familien­pflege. Die älteste war Jahr­gang 1895 und hieß Josepha, die jüngere hieß Katharina und war Jahr­gang 1902, also etwas jünger als ihr Bruder, mein Vater Martin, der 1900 ge­boren war.
Katharina ist mit Genehmigung des Bischofs von Galen ca. 1940 aus dem Kloster aus­getre­ten und war darauf­hin in Lipp­stadt als erste ambu­lante Kranken­schwes­ter tätig. Bis über 80 Jahre fuhr sie mit dem Fahrrad zu ihren zahl­rei­chen Patien­ten und ver­sorgte sie. Zu ihrem 80. Ge­burts­tag war auch ein Artikel mit Foto von ihr im Patriot. Ich liebte diese bei­den Tanten sehr, denn sie waren beide die liebens­wertes­ten Menschen, die ich kennen­gelernt hatte und taten viel Gutes.

Dabei waren sie immer fröhlich, freund­lich und liebe­voll zu allen Menschen. Deshalb hatte ich in Er­wägung ge­zogen auch Ordens­schwes­ter in diesem Orden zu werden. Als ich dann aber das wirk­liche Ordens­leben im Kinder­heim St. Hedwig kennen­gelernt hatte, wusste ich mit abso­lu­ter Sicher­heit, dass ich nie wieder einen Fuß in ein von Nonnen ge­leite­tes Haus setzen würde. Das habe ich auch bis zur Be­erdi­gung meiner Tante Josepha in Jahr 1983 ge­hal­ten. Die Beerdi­gung war im Mutter­haus in Bottrop.

Ich hatte damals im Rahmen meiner Therapie oft über­legt, ob ich noch einmal ins Hedwigs­heim zurück­kehren sollte, um all die Dinge zu verarbei­ten, die ich er­lebt hatte und auch um Fragen nach dem Warum zu stel­len. Habe es immer wieder auf­gescho­ben. Habe ge­dacht, es sei noch lange Zeit dazu und dann war die Oberin Sr. Ambrosia tot und ich konnte sie nicht mehr fragen.

Allerdings muss ich zu meinem Auf­ent­halt dort auch sagen, dass es auch et­liche sehr liebe und gute Schwes­tern gab. Ich er­innere mich an die sehr beleibte Küchen­schwester Proklar, die mich so oft ge­trös­tet und in den Arm ge­nom­men hatte, wenn ich wieder Heimweh hatte. Ich er­innere mich mit großer Liebe auch an Sr. Lucia, die im Büro der „Mutter Oberin“ arbei­tete und die für uns Lehr­linge zustän­dig war. Sie hat uns die ersten Wege bis zur Berufs­schule be­glei­tet, hat mit uns Theater­stücke einge­übt, ge­bastelt und ver­sucht, mir das Gitarre­spielen bei­zu­bringen. Sie hatte immer ein offenes Ohr für uns. Auch viele der älte­ren Schwes­tern waren sehr gut­mütig, sanft und mit­fühlend. Anders als die Schwes­tern, die die Kinder­gruppen lei­teten.

Da war Sr. Cäcilia, die die kleinen Mädchen be­treute und auch noch ganz nett war. Dann war die sehr strenge Sr. Hieronyma, die die mitt­leren Mäd­chen unter sich hatte. Sie war gleich­zei­tig auch Kranken­schwes­ter und wenn wir Lehr­linge ein „Weh­wehchen“ hat­ten, war sie auch für uns zu­ständig.

Die großen Mädchen betreute Sr. Angela. Für die kleinen Jungen war Sr. Libori zu­stän­dig. Sie kam gebür­tig aus dem näheren Um­feld von Lipp­stadt. Für die mitt­leren Jungen war Sr. Fides zu­stän­dig. Bei ihr in der Kinder­gruppe habe ich meine Erfah­run­gen ge­macht. Sie hatte wirk­lich „Haare auf den Zähnen“. Die großen Jungen be­treute Sr. Bertranda. Wir Lehr­linge wurden aber nie bei den großen Jungen und großen Mädchen ein­gesetzt, nur bei den Kleinen und Mitt­leren.

Dem Kinderheim war auch eine Schule - die Hedwig­schule ange­glie­dert. In ihr gingen auch Kinder von außer­halb, die in ande­ren Schulen auf­fällig ge­wor­den waren. Das Josefs­kinder­heim kannte ich als Waisen­haus, in unmittel­barer Nähe zum Drei­faltig­keits­hospital. Über die schlim­men Zu­stände dort hörte ich von meiner Tante Maria, die Jahr­gang 1898 war. Zu ihr bin ich dann ja 1969 nach Dort­mund ge­zogen. Sie er­zählte mir viel über die schlim­men Zustände dort.

Da sie keine Kinder bekommen konnte, hat sie sich von dort einen kleinen Jungen ge­holt. Er hieß Karl-Heinz und kam mit ca. 4 Jah­ren zu ihr. Leider hatte das Geld nie für eine Adop­tion ge­reicht, aber er bleib von da an dauer­haft bei ihr - und ist später Berufs­soldat ge­wor­den. Als Ober­regierungs­rat hat er dann später ge­heira­tet und bekam zwei liebe Söhne.

Da ich über die Zustände im Josefs­haus aber nur durch „Hören­sagen“ weiß und nicht be­urtei­len kann, was davon wirk­lich stimmt, schreibe ich nichts darüber. Aber alles, was ich im Hedwigs­kinder­heim erlebt habe, ent­spricht der Wahr­heit.


Historische Entwicklung von Kinderheimen in Deutschland seit dem Mittelalter

Vor dem Hochmittelalter gab es noch keine staat­lichen Ein­rich­tun­gen für Waisen­kinder. Deshalb waren Waisen auf die Sippe oder Dorf­gemein­schaft ange­wie­sen. Andern­falls wurden Waisen und arme Kinder auf Bauern­höfen „ausge­dingt“, d.h. gegen Unter­kunft und Essen zur Arbeit her­gege­ben. Die Arbeit war oft hart, Züchti­gung war üblich. In der Schweiz hatte sich die Praxis der „Verding­kinder“ sogar bis in die 1950er Jah­re er­halten.

Ab dem Hochmittelalter wurden in Groß­städten die ersten Hospi­täler und Armen­häuser ge­grün­det. Diese nahmen neben Kranken und Alten verein­zelt auch Waisen­kinder auf. Auch in Klöstern wurde sich um ver­las­sene Kinder ge­küm­mert, aber auch dort wurden Kinder früh zur Arbeit heran­gezogen - und in reli­giöser Strenge er­zogen.

Ab dem 16. Jahrhundert wurden in größe­ren Städten die ersten Waisen­häuser ein­ge­rich­tet. Es herrschte Diszi­plin, reli­giöse Erzie­hung und Arbeits­pflicht - teil­weise als Zwangs­arbeit in Manufak­tu­ren. Für Jungs be­stand die Möglich­keit einem (Handwerks-)Meister über­geben zu werden, wo jahre­lange Arbeit für Aus­bil­dung, Ver­pfle­gung und Unter­kunft zu leis­ten war.

Durch die Industriali­sie­rung im 19. Jahr­hun­dert wuchsen die Städte, die Stadt­bevölke­rung und die Armut. Das führte zu einem massi­ven An­stieg von Heim­kindern. Die Waisen­häuser wurden größer, teils kasernen­artig organi­siert. Weil den Städten das Geld fehlte, waren die Heime selber arm und wurden autori­tär und repres­siv ge­führt.

Bis weit ins 19. Jahr­hun­dert gab es keine staat­lichen Gesund­heits­systeme. Die Kirchen und Klöster füll­ten diese Lücke und grün­de­ten selber Kranken­häuser und Kinder­heime. Klöster schick­ten ihre Ordens­schwes­tern als Pflege­kräfte - auch noch im 20. Jahr­hun­dert. Und so gab es bis in die 1950er Jah­re noch keine staat­li­chen Pflege- oder Erziehungs-Berufe, statt­des­sen wurden diese Auf­gaben von den Ordens­schwes­tern (umgangs­sprach­lich Nonnen) über­nom­men.

Die Pflege und Erziehung war keine be­zahlte Tätig­keit, sondern ein Aus­druck reli­giöser Beru­fung und christ­li­cher Nächsten­liebe. Die Schwes­tern waren Vinzenti­nerinnen oder Franzis­kanerinnen und wur­den von ihren Ordens­gemein­schaf­ten ver­sorgt.
Das erste Krankenpflege­gesetz in der BRD trat 1957 in Kraft, worin erst­mals die Berufs­ausbil­dung ge­regelt wurde. Gleiches gilt für Erzieher/­innen durch NRW-Landes­gesetze ab den 50er Jahren.

Der gewalttätige Erziehungs­stil bis zu jener Zeit hatte reli­giöse, ideolo­gi­sche und weitere Gründe. Im Katholi­zismus galten Kinder als „von Natur aus sündig“ und mussten zur Tugend und Gottes­furcht er­zogen werden – mit Strenge und not­falls mit Strafe. Zudem galt Armut als selbst­verschul­det. Die Armut der Eltern konnte als Zeichen für mangeln­den Fleiß, ein sündi­ges und nicht gott­gefäl­liges Leben ge­deutet werden. Kinder aus armen Fami­lien wurden in Heimen möglicher­weise hart ange­fasst, so als müsste man ihnen ihre Her­kunft aus­trei­ben und sie dafür be­strafen („Du bist ja wie deine Mutter“).

Preußen und später das Deutsche Kaiser­reich waren stark hierar­chisch organi­siert. Deshalb wurde bei der Erzie­hung sehr auf Unter­ord­nung, Gehor­sam und Diszi­plin ge­achtet. Dies galt als Grund­pfeiler einer funktio­nieren­den Gesell­schaft. In Schulen und Heimen wurde diese Anschau­ung institutio­nali­siert, indem man auf Angst, Strafe und Kontrolle setzte. Autori­täre Erzie­hung war in der Gesell­schaft akzep­tiert.

Es gab aber auch weitere Gründe für die aggres­sive Strenge. Kinder­heime waren finan­ziell chro­nisch unter­ver­sorgt, d.h. es wur­den alte Gebäude ge­nutzt, die wahr­schein­lich in einem schlech­ten Zu­stand waren und es fehlte an be­nötig­ter Aus­stat­tung. Der materi­elle Mangel macht unzu­frie­den und führte auch dazu, dass Kinder schon bei kleinen Miss­geschi­cken im Umgang mit Materi­alien unge­wöhn­lich hart be­straft wurden.

Außerdem war der Betreuungs­schlüssel schlecht, d.h. eine Ordens­schwes­ter musste sich z.B. um 30 oder zeit­weise bis zu 50 Kinder kümmern. Zudem war die Ausbil­dung der Schwes­tern recht kurz. Das Noviziat dauerte nur zwei Jahre, wobei das letzte Jahr aus Praktika be­stand. Nach heuti­gen Maß­stä­ben war die Ausbil­dung in Psycho­logie und Päda­go­gik wohl unzu­reichend.
Bei all dem zusammen, dem damali­gen Zeit­geist und den schlech­ten Voraus­set­zun­gen, war ein liebe­voller Umgang mit Heim­kindern kaum zu er­war­ten. Dass sich der strenge Stil bis in die 1970er Jahre fort­ge­setzt hat, lag wohl daran, dass die letz­ten Ordens­schwes­tern und Verant­wort­li­chen noch in der Kaiser­zeit um 1900 auf­ge­wach­sen waren.

Heimkampagne: Als eine der ersten prangerte die Journalis­tin Ulrike Meinhof 1965 die schlechte Situa­tion von Kindern in Heimen an. Sie schrieb Artikel und produ­zierte Radio­sendun­gen, sogar einen Film, weil die Situa­tion von Heim­kindern bisher in deut­schen Medien noch nicht thema­ti­siert wor­den war. Ihre Recher­chen trugen zu ihrer Politi­sie­rung bei. Sie sah solche Miss­stände (auch in ganz ande­ren gesell­schaft­lichen Berei­chen) nicht als Einzel­fälle, sondern als Aus­druck syste­mi­scher Gewalt in der BRD. 1970 wurde sie Mit­begrün­derin der links­extremis­ti­schen RAF. Sie starb 1976 in ihrer Gefäng­nis­zelle.

Der gesellschaftliche Wandel im 20. Jahr­hun­dert führte dazu, dass immer weniger Frauen bereit waren, ein Leben in einem christ­li­chen Orden zu füh­ren. Die Ordens­gemein­schaf­ten über­alter­ten, viele Schwes­tern schie­den alters­bedingt aus dem Dienst aus. Und viele Kranken­häuser wurden in öffent­liche oder private Träger­schaft über­führt und fusio­nier­ten. Es ent­stan­den klare Berufs­profile, Tarif­verträge und arbeits­recht­liche Vor­schrif­ten, die mit der Arbeit der Ordens­schwes­tern nicht mehr ver­ein­bar waren. Die Orden schrumpf­ten und zogen ihre verblie­benen Schwes­tern in die eigenen Häuser des Ordens ab.

2006 belegte das Buch „Schläge im Namen des Herrn“ den groß­angeleg­ten Miss­brauch von Heim­kindern in West­deutsch­land zwischen 1945 und 1970. Laut dem Autor begann die Auf­klärung darüber mit der „Heim­kampagne“ (s.o.), die lang­fristig zur Be­endi­gung dieser Zustände führte.


 Elisabeth Villmer 
Kinderverschickung

Wir waren zu Hause 6 Kinder und meine Eltern waren heil­froh, wenn sie mal ein oder zwei Kinder für 6 Wochen aus dem Haus hatten. Wir Kinder waren alle etwas zu dünn. Darum wurde ich ab meinem 6. Lebens­jahr (ab 1959) jedes Jahr für 6 Wochen zur Kinder­erholungs­kur ge­schickt, unter ande­rem nach Amrum, Borkum, Bad Wöris­hofen, mehr­mals in den Harz, z.B. Braun­lage, oder in den Schwarz­wald.

Leider hat das Mästen dort nie was ge­bracht. Ich hatte immer so viel Heimweh und habe nur ge­weint. Die Qualen die ich dort erlit­ten habe, waren für mich unbe­schreib­lich. Wenn wir den Teller nicht leer ge­ges­sen hat­ten, muss­ten wir so lange sitzen blei­ben, bis er leer war - und wenn wir ihn er­brochen hat­ten, weil's einfach zu viel für den kleinen Magen war, muss­ten wir das Er­bro­chene auch wieder auf­essen. Von einem Apfel dürfte nur der Stil übrig blei­ben. Alles andere musste mit­geges­sen werden.

Jeden Tag Mittagschlaf und wer nicht zuge­nom­men hatte, wie ich, durfte gar nicht mehr raus zum Spielen. Ich hatte vieles ver­drängt, aber im Rahmen einer Psycho­thera­pie habe ich die ganzen Ereig­nisse dann später auf­ge­arbeitet.



Historische Entwicklung der Kinderverschickung

Das Verschicken von Kindern zu Kinder­kuren begann schon ab den 1850er Jah­ren, mit der Indus­tria­li­sie­rung und Ver­städte­rung. In Fabriken war Kinder­arbeit weit ver­brei­tet, obwohl 1839 in Preußen die Schul­pflicht einge­führt worden war und 1853 die Arbeits­zeit für Kinder ab auf 6 Stunden täg­lich be­grenzt wurde (vorher bis zu 12 oder 16 Stunden täg­lich). Zudem lebten Arbeiter­familien in engen und schlechten Wohn­verhält­nissen und litten unter Mangel­ernährung, die zur zu gesund­heit­lichen Proble­men führte. In Preußen und anderen deutschen Staaten be­gannen Ärzte, Lehrer und Pfarrer, schwäch­liche Stadt­kinder auf Erholungs­aufent­halte zu schi­cken, ent­weder in die Küsten­regionen oder Mittel­gebirge.

Um 1900 gab es bereits systematisch organi­sierte Kinder­kuren, geför­dert durch Stadt­verwal­tungen und Kranken­kassen. Im Kaiser­reich war die Kur viel­fach Ausdruck von Diszipli­nierungs­idealen: Gesunde, kräftige und „ordnungs­liebende“ Kinder galten als Ziel.

Als z.B. 1918 der Bischof von Pader­born ein Kur­heim in Bad Sassen­dorf bauen lassen wollte, wurde im Patriot fol­gende Be­grün­dung an­ge­geben: "Die lange Dauer des Krieges mit den sich meh­ren­den Ernährungs­schwierig­keiten hat leider, wie jeder weiß, auf den Gesund­heits­zustand zahl­reicher Kinder, beson­ders in den Städten und Industrie­orten, sehr nach­teilig ge­wirkt. Wie uns das Bischöf­liche General­vikariat in Pader­born mit­teilt, gibt es schon ein Heer von kränk­lichen, schwäch­li­chen und unter­ernähr­ten Kindern. Es ist sowohl vater­ländi­sche, wie christ­liche Pflicht, daß wir sie vor gänz­li­chem Siech­tum be­wah­ren. Staat und Kirche sind infolge der schwe­ren blutigen Ver­luste mehr denn je auf einen gesunden, kräfti­gen Nach­wuchs an­ge­wie­sen. Die bis­heri­gen Er­fahrun­gen in Kinder­heil­anstal­ten haben ge­zeigt, daß der Kur­gebrauch in sol­chen Heimen oft das ein­zige Mittel zur Wieder­herstel­lung der Gesund­heit ist." 

In der Nachkriegszeit wurde in der BRD von den 1950er bis 80er Jah­ren wieder Kinder­verschi­ckung ange­boten.
Aus ↗Wiki­pedia: "In vielen Verschi­ckungs­heimen herrschte über lange Zeit ein strenger, verein­zelt noch von der NS-Ideolo­gie ge­präg­ter Umgang mit den Kindern. Er war unter anderem von Johanna Haarer in ihrem Buch "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" (1934 bis 1987 ver­kauft) propa­giert wor­den. Dazu gehörten Erprügeln von Gehorsam, strenge Sauber­keits­forderun­gen, körper­licher Zwang und das Diktat der Uhr. Psychi­sche und körper­liche Gewalt wurde von den Kindern er­litten. Zur Ver­schleie­rung der Umstände muss­ten viele Kinder vorge­gebene Texte von einer Tafel auf Post­karten ab­schrei­ben, die dann an die Eltern nach Hause ge­schickt wurden."

Weiter aus Wikipedia: "Eine Auseinander­setzung mit traumati­schen Erleb­nissen in den Kur­heimen fand lange Zeit nur in Einzel­fall­schilderun­gen statt [...] 2017 legte eine Radio­reportage negative Zustände in vielen Kinder­kur­heimen der 1950er bis 1970er Jahre offen. Betroffene be­richte­ten darin von Zwangs­ernäh­rung, Gewalt, Isolations­strafen und auch sexuellem Miss­brauch in Einrich­tungen der Diakonie, des Bundesbahn­sozialwerks, privater Träger [...] Der Beitrag verweist auch auf die zahl­reichen Berichte im Internet, in denen Betrof­fene die Verschickungs­heime als „brutale Zucht­anstalten“ be­schrei­ben, ordnet sie als NS-Erbe ein und be­schreibt die Ausbeu­tung der Kur­kinder als einen mut­maß­lich verbrei­te­ten Geschäfts­zweig."


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