Bürgermeister Bertram holte 1850 die Eisenbahn nach Lippstadt |
Während Lippstadt im späten Mittelalter relativ konstant um 2.500 Einwohner hatte (nur Kernstadt), hatte die wichtige Hansestadt Soest am Hellweg (Handelsweg zwischen Rhein und Weser) zwischen 8.000 und 10.000 Einwohner - und war damit die größte Stadt in Westfalen und eine der größten deutschen Städte.
Größere deutsche Städte waren nur die, die schon in der Antike von den Römern gegründet worden waren, wie z.B. Köln als größte Stadt im Heiligen Römischen Reich, die im Zeitraum von 1430 bis 1807 immer rund 40.000 Einwohner hatte.
Zum Schmunzeln ist hingegen die frühere Einwohnerzahl von Gütersloh: Im Jahr 1532 zählte man 29 Einwohner im Dorf Gütersloh, das zur Herrschaft Rheda gehörte. Der Name von Gütersloh leitet sich von Gunter's Loh ab, d.h. eine gerodete Fläche, die einem Mann namens Gunter gehörte. Erst als das Dorf langsam auf 2.000 Einwohner angewachsen war, bekam es 1825 die Stadtrechte verliehen.
Zu dem Zeitpunkt waren Soest und Lippstadt schon zu Kreisstädten ernannt worden. Lippstadt hat sein Stadtrecht 600 Jahre vor Gütersloh erhalten, und Soest mit seiner ältesten westfälischen Stadtverfassung sowieso (Jahr unbekannt).
Nun fragt man sich, wie es passieren konnte, dass die mittelalterliche Großstadt Soest eine kleine Stadt blieb, und wieso das ehemalige Dörfchen auf Gunters Loh heute an der Schwelle zur Großstadt steht ...
Die Soester feiern noch heute, dass sie sich hinter ihrer Stadtmauer erfolgreich gegen die Angriffe des Erzbischofs von Köln wehren konnten (Soester Fehde 1444-1449) und dass Soest unabhängig blieb. Das klingt erst mal gut, aber ihr Sieg war die Ursache für das Ende der großen Stadt Soest. Dem Erzbischof von Köln gelang es nämlich alle Gebiete rund um Soest für sich zu gewinnen, entweder durch Zukauf oder kriegerisch, und somit war das freie Soest plötzlich von feindlichem Gebiet umgeben. Soests Handelswege wurde abgeschnitten (Zölle?) und damit verlor Soest seine Bedeutung.
Seinen letzten regionalen Hansetag konnte Soest (u.a. mit Lippstadt) zuletzt 1604 veranstalten. Am letzten überregionalen Hansetag von 1669 in Lübeck nahm Soest bereits nicht mehr teil. Den Tiefpunkt des Niedergangs erlebte Soest 1756 als es nur noch 3.600 Bewohner zählte.
Ab 1840 entstanden Eisenbahnstrecken, z.B. von Duisburg über Hamm nach Hannover, vergleichbar dem Verlauf der heutigen Autobahn A2. Und am 1. Oktober 1850 wurde die Strecke Hamm-Paderborn eingeweiht. Ihr Verlauf über Soest nach Paderborn war ursprünglich entlang des alten Hellwegs geplant, d.h. über Erwitte. Lippstadt hätte kein Gleis bekommen.
Aber Lippstadts damaliger Bürgermeister Friedrich Bertram (Amtszeit 1830-1850) setzte sich dafür ein, dass die geradlinig geplante Bahnstrecke in einem extra Bogen um Erwitte herum gebaut wurde - und somit Lippstadt statt Erwitte einen Bahnhof bekam. Pech für Erwitte, großes Glück für Lippstadt. Und dank der Lippstädter WLE entwickelte sich die Stadt ab 1883 zu einem Eisenbahnstern.
In Soest schuf der Güterbahnhof bis zu 2.000 Arbeitsplätze, jedoch siedelte sich in Soest kaum Industrie an. Anders in Lippstadt: Die Westfälische Union (Drahtwalzwerk) konnte sich hier nur aufgrund des Eisenbahnanschlusses ansiedeln und wurde Lippstadts größter Arbeitgeber. Durch die entstehenden Arbeitsplätze zogen immer mehr Leute von außerhalb nach Lippstadt. Innerhalb von 30 Jahren verdoppelte sich die Einwohnerzahl bis zum Jahr 1885 auf 11.500 Einwohner.
Auch die anderen Metallindustrien wie die WMI (Hella) und die Preußische Artillerie-Werkstatt (wo heute Rothe Erde ist) entwickelten sich dank des Eisenbahnanschlusses. In weiteren 50 Jahren verdoppelte sich Lippstadts Einwohnerzahl abermals, auf 23.400 Einwohner im Jahr 1939.
1905 hatte das kleine Gütersloh erst halb soviele Einwohner wie Lippstadt. Wegen unterschiedlicher Eingemeindungen (GT 1910, LP 1975) sind neuere Zahlen erst nach 1975 wieder vergleichbar. 1975 hatte Gütersloh dann bereits 10.000 Einwohner mehr als Lippstadt (jeweils mit Ortsteilen).
Die Erklärung für das rasante Wachstum Güterslohs dürfte ebenfalls wirtschaftliche Ursachen haben. 1907 hat Miele seinen Sitz von Herzebrock nach Gütersloh verlegt. Und ab 1950 begann der ehemals religiöse Verlag Bertelsmann mit seinem „Bertelsmann Club“ erfolgreich zu werden. Aktuell beschäftigt Bertelsmann als nun weltgrößter Verlag („Random House“) etwa 10.700 Arbeitnehmer in Gütersloh, und bei Miele arbeiten etwa 5.500 Beschäftigte in Gütersloh. Beide Unternehmen sind die größten privaten Arbeitgeber in Ostwestfalen-Lippe.
Auch wenn uns in Lippstadt die historische Entwicklung der Nachbarn Soest und Gütersloh vielleicht nicht wichtig ist, so finde ich es trotzdem sehr spannend, welche starken Einflüsse die Wirtschaft auf die einzelnen Städte hat - und dass die Entwicklung der beiden Beispiele Soest und Gütersloh derart gegensätzlich verlief. Gut für Lippstadt, dass sich Bürgermeister Bertram damals mit unserem Bahnhof noch durchsetzen konnte. Vielleicht wäre sonst Lippstadt heute so klein wie Erwitte - und Erwitte so groß wie Lippstadt, wer weiß?!